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Einmal soziales Netzwerk ohne Großkonzern, bitte: Welcome to Mastodon!

Teil 1 der Serie zu Mastodon, dem alternativen sozialen Netzwerk.

Wenn mir 2020 eines klar geworden ist neben all den vielen schrecklichen Dingen, dann ist es dies: Soziale Netzwerke erfüllen in unserer Gesellschaft eine wichtige Funktion. Nicht nur jetzt, sondern schon eine Weile. Mit ihrer Hilfe ist es vergleichsweise einfach, mit Menschen Kontakt zu halten, die uns wichtig sind, oder neue Menschen kennen zu lernen. Wir sind auf Facebook mit unseren Familien und Schulfreund*innen vernetzt, treffen auf Twitter Leute, die ähnliche Interessen haben wir wir. Wir posten, liken, taggen, teilen. Und längst haben wir uns dabei an die Präsenz von Unternehmen in diesen Räumen gewöhnt, und an die immerpräsente Werbung, die oft gut getarnt ist. Denn bei allem „sozialen“ in den Netzwerken ist es ein Fakt, dass wir soziale Plattformen nutzen, die von Konzernen aufgebaut wurden und gemanagt werden.

Das Hauptinteresse von Unternehmen im Kapitalismus ist, Gewinn zu maximieren. Wie wird Gewinn gemacht in sozialen Netzwerken? Durch Werbung, durch bezahlte Postings. Privatpersonen sind kostenlos unterwegs auf Facebook und auf Twitter, auf Instagram und Pinterest.

Die Ware bist du

Ist euch das schon mal aufgefallen? Wir zahlen für Speicherplatz an allen möglichen Orten, aber nicht in sozialen Netzwerken. Strange… Sollte das Speichern von Daten nicht Geld kosten, die Unternehmen kostet es doch auch was? Tja, nein. Denn die Ware, das sind wir. Wir und alle Daten, die wir hinterlassen. Unsere Likes sind bares Geld wert, denn wenn Facebook weiß, dass ich Star-Trek-Fan bin, kann es mir zum Beispiel Werbung für nutzlosen Merchandise wertvolle nostalgische Memorabilia schalten, und ein anderes Unternehmen bezahlt Facebook dafür.

Alles nicht so schlimm? Ich denke doch. Denn Konsum ist ein wichtiger Treiber des Klimawandels, und die gesundheitsgefährdende, umweltzerstörende Produktion von Massenware in Billiglohnländern ist ein Politikum für sich.

Werbung ist per se schon ma schlecht.

Skandale, Randale

Was auch irgendwie schlecht ist, sind die ganzen Skandale: Cambridge Analytica. Botarmeen auf Twitter. Desinformationskampagnen. Schleppende – wenn überhaupt – Moderation bei Harassment. Warum, fragt man sich, passiert sowas? Wieso wird so wenig getan gegen die ganzen kleinen und großen Unglaublichkeiten? Das hat vermutlich mehrere Gründe: Einerseits monetäre, denn Datenweitergabe oder Desinformationskampagnen können sozialen Netzwerken mindestens indirekt Geld einbringen, zum Beispiel durch gesponsorte Beiträge. Aber soziale Netzwerke dürften auch von einer „Aufregungskultur“ profitieren, in der verhärtete Fronten wild aufeinander einbrüllen. Denn was für soziale Netzwerke zählt, ist Engagement. Und mehr Rumgebrülle heißt mehr Aktivität auf der Plattform. Das bedeutet mehr Daten. Und mehr Anzeigen. Und mehr dort verbrachte Zeit.

Das dürfte einer der Hauptgründe sein, warum soziale Netzwerke, die von großen Unternehmen geführt werden, keinerlei Interesse an Moderation haben. Abgesehen davon, dass Moderation an sich Geld kostet – und dadurch den Gewinn noch mehr schmälert. Keine Chance, dass ein marktwirtschaftlich arbeitendes Unternehmen das von sich aus macht.

Aber es gibt noch weitere perfide Dynamiken, die dafür sorgen sollen, dass wir möglichst viel Zeit in den sozialen Netzwerken verbringen: Algorithmen. Zugegeben, „der Algorithmus ist Schuld“ ist ein überstrapaziertes Argument, das gern für alles merkwürdig-böse im Internet verantwortlich gemacht wird. So weit will ich nicht gehen. Die Algorithmen sozialer Netzwerke sind für uns User auf genau eine Sache optimiert: Uns so lange und so nachhaltig wie möglich in den sozialen Netzwerken zu halten. Uns gerade genug von dem zu geben, wonach wir uns sehnen, dass wir weiterscrollen. Und weiterscrollen. An der nächsten Anzeige vorbei. Und weiter. Vielleicht kommt doch noch ein Beitrag von einer Person, die uns wichtig ist? Oder etwas Schreckliches, das ich nicht verpassen darf. Denn der Algorithmus sorgt bei den großen sozialen Netzwerken dafür, dass Beiträge nicht chronologisch angezeigt werden, sondern „nach Interesse“.

Ja nee, is klar. Würden die Netzwerke das wirklich effizient tun, würden sie sich ins eigene Fleisch schneiden. Es geht immer um die Maximierung des Gewinns, also der vom User im Netzwerk verbrachten Zeit. Wie gesagt: Wir sind die Ware. Und je mehr Zeit wir in einem Netzwerk verbringen, desto mehr bringen wir dem Netzwerk ein.

A New Challenger Enters The Ring: Mastodon

Mastodon ist ein soziales Netzwerk, das keinem Unternehmen gehört. Der Code ist Open Source. Und das Netzwerk ist dezentral. Das heißt, es gibt nicht „das eine“ Mastodon, sondern hunderte Server, die miteinander vernetzt sind. Wer will, kann auch einen eigenen Server betreiben.

Mastodon erinnert dabei am ehesten an Twitter: Die Beitragslänge eines „Toots“ ist meist auf 500 Zeichen begrenzt, auch wenn einige Instanzen dabei ausscheren und längere Beiträge ermöglichen. Es lassen sich Toots, Bilder und Links teilen, Personen erwähnen, Ketten aus Beiträgen bilden, Toots anpinnen, Hashtags setzen.

Aber es geht noch mehr: Beiträgen können Content Warnings vorgeschaltet werden, für viele User*innen auf Mastodon eine essenzielle Funktion, die triggerbehaftete Themen leichter filterbar macht. Die Reichweite eines Beitrags kann für jeden Beitrag individuell eingeschränkt werden. Die Indizierung der eigenen Beiträge für Suchmaschinen lässt sich einschränken, Bilder verbergen, Followis manuell freischalten. Und es gibt keine Algorithmen, die Inhalte gewichten: Mastodon ist streng chronologisch.

Das Beste aber ist: Mastodon gehört niemandem. Kein Unternehmen verkauft die Daten, auch wenn es bereits Versuche gab, die öffentlich zugänglichen Daten abzusammeln. Werbung ist auf den meisten Servern verboten oder stark eingeschränkt. Und, für Leute, die von Twitter oder Facebook kommen, mag es verwunderlich sein: Es bringt fast immer was, problematische User zu melden. Insbesondere auf kleineren Instanzen mit festem Moderationsteam werden einzelne problematische User oder ganze Instanzen innerhalb kurzer Zeit geblockt.

Das ist auch der Grund, weshalb ich dazu raten würde, eine überschaubare Instanz mit klaren, starken Regeln als Homebase zu wählen.

Netzwerk, wechsel dich!

Wie also wechseln? Wie soll man loskommen von Facebook, Twitter, Instagram, wo all die lieben Leute sind, mit denen man sich so gern unterhält? Wo man Reichweite hat? Wo man gehört wird?

Ich gebe es zu, es ist nicht einfach. Es ist schwer, und die großen sozialen Netzwerke haben ein besonderes Interesse daran, es uns so schwer zu machen wie möglich. Wie bereits erwähnt, wir sind die Ware. Wenn wir abwandern, schrumpft ihr Gewinn. Das gilt es um jeden Preis zu verhindern.

Bei mir hat ein Abschied auf Raten gut funktioniert. Erst habe ich weniger interagiert. Dann weniger gelesen. Schließlich die App vom Handy geschmissen. Und schließlich meinen Account gelöscht. Erst bei Twitter, demnächst auch auf Facebook.

Politische Entscheidungen mit ungleichen Voraussetzungen

Aber ich weiß, ich befinde mich in einer privilegierten Position. Ich lebe nicht davon, dass meine Beiträge von möglichst vielen gelesen werden, ich brauche nicht das ganz große Publikum, das man derzeit nur auf kommerziellen Plattformen findet. Ich habe das Privileg, die Leute, die mir wichtig sind, auch über andere Wege erreichen zu können, so dass ich nicht auf soziale Netzwerke zurückgreifen muss – mit wenigen Ausnahmen, die weh tun.

Aber bei allen Überlegungen ist es wichtig, zu betonen: Neben einer persönlichen ist es auch eine politische Entscheidung. Ich will nicht länger durch meine bequeme Präsenz dazu beitragen, dass sich die sozialen Netzwerke aus ihrer Verantwortung stehlen. Dass sie ihre Macht missbrauchen, ausbeuten und durch das Anheizen sinnlosen Konsumierens aktiv dazu beitragen, den Planeten zu zerstören. Ich will mich nicht weiter darüber aufregen, dass von mir gemeldeten Hassaccounts weiterhin fröhlich ihren Hass verbreiten können – und durch meine Aufregung dem Unternehmen dabei ebenso viel einbringen wie durch das Posten von niedlichen Katzenfotos.

Ich verstehe, dass diese Entscheidung trotz ihrer politischen Dimension auch eine private ist. Und eine, die Bereiche von systematischer Diskriminierung und systematischer Privilegiertheit berührt, von ungleich verteilten Ressourcen. Und genau deswegen ziehe ich die Reißleine bei den großen sozialen Netzwerken: Denn wer es sich „leisten kann“, sollte sich die unbequemen Gedanken machen.

Und dann die Konsequenzen ziehen.

Eltern, Kinder, Corona: Das Leben, das ich nie wollte

Kinderhände halten ein selbstgemaltes Bild hoch.

Ich lebe ein Leben, das ich nie wollte. Seit über 10 Wochen jetzt betreuen mein Partner und ich unser Kind zu Hause. Zusätzlich zu unserer Arbeit, klar. „Nebenher“. Unser Kind ist viereinhalb Jahre alt und sehr aufgeweckt, und es fordert viel Aufmerksamkeit. Seit ich vor etwa 6 Wochen einen Hilferuf absetzte, weil ich nicht mehr wusste, wie ich mit der Überforderung anders klar kommen sollte, werden wir 3-4 Mal in der Woche unterstützt von Freund*innen, die dann das Kind für 2 Stunden übernehmen. Die Freund*innen leben mit uns im gleichen Haus und nehmen wie wir die Kontaktbeschränkungen äußerst ernst.

Kinder, Küche, Kompromisse

Als ich mich 2014 dafür entschieden habe, dass ich ein Kind möchte, war das eine knappe Entscheidung. Man könnte fast sagen, dass ich ein Kind „in Kauf genommen habe“. Ich war 34 und wusste, dass unsere Gesellschaft Kinder nicht besonders wertschätzt. Kinder werden als Makel im Lebenslauf wahrgenommen, als Zeit- und Geldfresser, als Wesen, die dir Jugend, Sexdrive und Partynächte rauben und sie ersetzen durch Kackwindeln, Kindergeburtstage und einen gebeugten Rücken vom vielen Katzbuckeln in alle Richtungen: Damit du überhaupt die dir gesetzlich zustehende Kinderbetreuung bekommst, damit dir das Elterngeld auch wahrhaftig ausgezahlt wird, damit du in einem Restaurant sein darfst mit deinem Kind, damit du in deinem Job weiterarbeiten darfst, man stelle sich das mal vor. Ich hatte außerdem Angst vor den physischen Veränderungen der Schwangerschaft, scheute die Verantwortung, die Eltern nie wieder ablegen können, macht euch da nichts vor. Und vor dem systemischen Sexismus, dem Mütter anders und mehr ausgesetzt sind als kinderlose Frauen. Und Mütter natürlich gänzlich anders als Väter. Ich nahm das damals in Kauf, weil wir uns ein Kind wünschten. Und wir lieben es sehr. Es ist das beste Kind der Welt.

Ein Kind liegt auf dem Bauch und malt.

Aber es war eine durchaus knappe Entscheidung. Und hätte ich gewusst, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, wo wir uns auf keine Unterstützung mehr verlassen können, ich hätte mich dagegen entschieden.

Corona bringt es an den Tag

Und dann kam Corona, und es ist soweit: Es gibt keine Unterstützung mehr. Wir Eltern vegetieren seit bald einem Vierteljahr (gebt euch das mal, bitte!) in unseren Familienhöhlen und sollen alles gleichzeitig machen, wenn wir auch künftig noch existieren wollen. Wir sollen arbeiten und die Kinder betreuen, dabei hübsch still sein, wir wollen ja hier nicht die Revolution proben, und wer sich beschwert darf mit Whataboutismen rechnen wie „Was ist denn mit den Alleinerziehenden, den Alten, der Autoindustrie!?“ Und weil wir ja wirklich wissen, dass es gerade anderen Menschen auch schlecht geht und einigen natürlich auch schlechter als uns, halten wir mehrheitlich die Klappe. Ich habe von Müttern (sic) gehört, die zwischen 5 und 7 Uhr am Morgen arbeiten, um danach die Kinder betreuen zu können. Ich habe von inoffiziellen Spielabsprachen erfahren. Ich habe von Nervenzusammenbrüchen gehört. Und von Suizidgedanken.

Unvorstellbar? Dann stell dir vielleicht mal vor, alle 15 Minuten klingelt ein Wecker. Wenn er klingelt, musst du eine zufällige Aufgabe machen, zum Beispiel ein Brot buttern, ein albernes Spiel spielen, kneten oder ein Buch vorlesen, mit einer 50%igen Chance, dass du die Geschichte so richtig scheiße findest. Und das musst du mit einem Lächeln tun und voller Liebe. Von 7 Uhr am Morgen bis 8 Uhr am Abend. Du darfst für eine Weile den Wecker ignorieren, aber dann musst du die ganze Zeit über darüber nachdenken, was für ein schlechter Mensch du bist und wie du die Leben aller Menschen langsam zerstörst, die du liebst.

Und das machst du jetzt bitte neben dem Job, dem Haushalt und dem ohnehin ständig drückenden Stress durch eine weltweite Pandemie – und du machst das bitte 10 Wochen lang, ohne, dass Besserung in Sicht wäre. Herzlich Willkommen in meiner Welt.

Vor inzwischen einem Monat forderten Sozialverbände und Kinderärzt*innen die Politik zum Handeln auf. Und seit Monaten wird versprochen, dass sich um die Kinder und auch um die Eltern gekümmert wird. Bisher ist dabei herausgekommen: Nichts. Notbetreuung. Lippenbekenntnisse. Von 300 € „Sonderzahlung“ wurde gesprochen. Was soll ich mit 300 €? Dafür kann ich mir keine neuen Nerven kaufen. Genausowenig übrigens, wie man sich von 150 € einen Laptop kaufen kann.

Zwei Zettel, auf denen mit krakeliger Kinderschrift "Papa" und "Mama" steht.

Ja sorry, dass ich kein Auto geboren habe. Da würde ich jetzt Finanzspritzen, Konjunkturankurblungsversuche und ganz viel Beachtung von Politiker*innen hinterhergeschmissen bekommen. Schuldigung auch, dass Kinder keine Airline sind, die die Umwelt seit Jahrzehnten durch fehlende Ausgleichszahlungen bescheißt und jetzt gerettet werden muss mit Milliarden – ganz legal natürlich, Umwelt ist ja als Ressource quasi nicht bezifferbar und darum wird da auch nicht bezahlt für. Duh. Kinder sind ja nur die langweiligen Steuerzahlenden von morgen, blabla, das Argument haben die Kinderlosen schon so oft gehört, es wird einfach nicht geiler, wenn ich es wiederhole. Es verliert aber auch nicht an Relevanz.

Aber ich schweife ab, wir wollen ja konstruktiv bleiben. Vorbildliche Eltern sozusagen.

Der neue Riss durch die Gesellschaft

Also stelle ich nüchtern fest: Ein Riss, der schon seit langem durch die Gesellschaft geht, und der von vielen der Einfachheit halber ignoriert wurde, ist jetzt unübersehbar geworden: zwischen Eltern und Kinderlosen.

Wenn Wigald Boning versteht, was jetzt getan werden muss, aber die Kanzlerin nicht. Wenn der Profifußball für einige wichtiger ist als eine zumindest zeitweise geregelte Betreuung für kleine Kinder. Wenn der Gender-Rollback läuft und läuft, nur nicht für alle gleichermaßen. Wenn sich manche Gedanken machen können, welches ausgefallene Brotrezept sie als nächstes ausprobieren oder welchen tollen Corona-Skill sie als nächstes lernen oder welches Workout sie am effektivsten zu Hause schaffen können – und andere unter der Dusche zusammenbrechen, weil sie ihr Kind lieben, aber einfach nicht mehr rund um die Uhr ertragen, weil sie gute Eltern sein wollen, aber nicht mehr wissen, wie das gehen soll, weil den letzten Rest an Geduld verbraucht haben und sie trotzdem ruhig und besonnen handeln müssen, wenn ihr Kind durch eine Trotzphase geht, die nun einmal dazugehören zum Kindsein.

Wir Eltern können nur so gut sein, wie wir Unterstützung haben: Bedingungslose Akzeptanz, radikale Hilfe, kreative Angebote. Von alledem ist gesellschaftlich nichts zu sehen. Das ist eine Schande und eine Tragödie. Und es darf nicht so bleiben. Denn die Reserven sind bei zu vielen schon lange aufgezehrt.

Darum appelliere ich an die Politik, aber auch jede einzelne Person: Tut endlich etwas! Schaut nicht weg, solidarisiert euch. Unterstützt die, die schon zu lange keine Kraft mehr haben, aufzubegehren. Seid kreativ, seid hilfsbereit, zeigt Akzeptanz. Denn wir sind am Ende unserer Kräfte angekommen.


Nachtrag, 28.05.2020:

Ich habe jetzt einige Male gelesen, ich solle mich nicht anstellen. Manche schreiben das als Helden-Elternteil, das sich ganz aufgibt für das Kind und sich in die Situation so positiv einfügt wie möglich. Wenn das deine Vorstellung eines erfüllten Lebens ist, dann ist das ja schön, aber diesen Lebensentwurf allen Eltern aufoktroyieren? Also bitte. Da war unsere Großelterngeneration ja weiter.

Andere möchten mir das Recht absprechen, mich für ein Kind entschieden zu haben. Ach, Jon Snow, you know nothing. Nichts über mich, über meine Situation, meine Partnerschaft. Es sei gesagt: Ich habe mir diese lebensverändernde Entscheidung sicher nicht leicht gemacht, was unter anderem Sichtbar ist anhand des Fakts, dass ich über 30 Jahre gewartet habe. Kommentare wie „dann hättest du halt kein Kind kriegen sollen“ disqualifizieren sich meiner Ansicht nach ohnehin selbst, denn was bitte ist die Alternative? Dass staatliche Stellen ab jetzt entscheiden, wer Kinder kriegen darf und wer nicht wertvoll, stabil oder wohlhabend genug dafür ist? Oder doch lieber dahergelaufene Kommentator*innen in Blogs? Derartige Argumentationsmuster lassen keine sinnvolle Diskussion zu und dienen nur der Herabwürdigung meiner Person und anderer Eltern.

Diskursiv vorgebildete Personen würden sich auch nicht in Täter-Opfer-Umkehr verheddern und mir die Schuld dafür geben, dass es mir (wie vielen anderen) mit der Situation schlecht geht. Positives Denken bringt nur so lange weiter, so lange es sich nicht vollständig von der Realität entkoppelt.

"this is fine" meme

Ich werde künftig keine Kommentare mit diesen Inhalten mehr freischalten. Wenn du also gerade ansetzen willst und etwas in dieser Art in deine Tastatur klopfen willst: Du kannst dir die Mühe sparen. 🙂

Marie Kondo, No-Buy, Zero Waste, Fridays for Future – dies ist eine Revolution!

Whoa whoa whoa! Halt, Stopp! Das sind aber viele Buzzwords in einem Titel! Ist das hier einer von diesen Clickbait-Artikeln? Nein. Ich verdiene nämlich gar nichts, wenn meine Artikel geklickt werden. („Whaaaaaaat!1!“) Nicht alles hat mit Kapitalismus zu tun.

Also zumindest nicht dieser Text, nicht so.

Jetzt, wo wir das aus dem Weg haben: Diese „Buzzwords“ sind gerade erstarkende Bewegungen, von denen manche politischer daherkommen als andere. Aber sie alle haben gemeinsam, dass sie etwas in unserer Gesellschaft sichtbar machen, das wir bisher vielleicht nicht so klar sehen konnten.

Arbeiten - Kaufen - Sterben auf einem Aufkleber
Foto von Daniel Schweighöfer.

Außerdem bin ich heute über den Artikel gestolpert Zehn Zwänge, die uns der Kapitalismus einbrockt. Neugierig klickte ich – und war von dem klitzekleinen Bogen, den der Artikel spannt, komplett unterrascht. Uh, ja, wir arbeiten für Geld, das war nicht immer so. Big Deal. Durchgeplante Arbeit führt zu durchgeplanter Freizeit. Gähn. Schnell wieder zugemacht und statt dessen angefangen, selbst zu schreiben.

Dabei berührt Kapitalismus uns viel tiefer. Er bestimmt unser Denken und Fühlen. Er verändert unsere Wahrnehmung. Er degradiert Menschen zu Verbrauchern, deren Sinn es ist, Waren zu fertigen, Dienstleistungen zu erbringen, zu konsumieren und dann zu sterben.

Marie Kondo, Göttin der Selbst-Genügsamkeit

Enter Marie Kondo. Sie schreibt uns nicht vor, was wir besitzen müssen. Sie sagt nicht, ob 10 Jeans zu viele, zu wenige oder gerade richtig viele sind. Sie sagt nur: Nimm dir die Zeit, dein Zeug in Ruhe anzusehen. Nimm dir die radikale Freiheit, ohne besondere Gründe Dinge auszusortieren. Nimm dir den Mut, alles kritisch anzuschauen und zu sehen, was dich davon glücklich macht.

Ein großer Berg Kleidung, aufgetürmt auf einem Bett.
KonMari, Stadium 1: Ein Berg Kleidung auf einem Bett aufgetürmt.

Die Erfahrung, die viele machen, die mit Hilfe von Konmari ausmisten: Es sind viel weniger Sachen als gedacht, die „Joy sparken“, also Freude auslösen. Viele Sachen sind Ballast, viele machen traurig, nageln eine*n in der Vergangenheit fest. Ich habe beim Ausmisten sehr stark gespürt, mit wie vielen negativen Gefühlen mein Zeug aufgeladen war. Ich hielt an Zeug, nein, an Müll fest, weil … ich irgendwann einmal Geld dafür ausgegeben hatte. Weil ich dachte, dass das „zu schade“ zum Ausmisten ist. Weil ich es ja noch mal brauchen könnte.

Aus Marie Kondo folgt: Es sind nicht die Dinge, die wirklich glücklich machen können. Die Dinge sind ein Mittel zum Zweck. Manche gewinnen wir lieb, füllen sie mit Bedeutung und guten Erinnerungen. Die sparken dann auch Joy, und wir halten lange an ihnen fest. Aber nicht, weil diese Dinge das von sich aus mitgebracht hätten. Sondern weil wir etwas mit ihnen gemacht haben.

No-Buy, die Rebellion der (Nicht-)Käufer*innen

In der Make-up-Community geht ein Gespenst um. Es heißt „No-Buy“, und es macht aus braven Konsument*innen der neuesten Lidschattenpalette, des krassesten Lippenstifts und dieser goldenen Gesichtsmasken Rebell*innen. Sie shoppen nicht im Laden, sondern in ihrem Stash, sie *shock* benutzen ihr Schminkzeug, statt sich neues zu kaufen. Sie rotten sich zusammen und ermuntern sich zum Nichteinkaufen, sie schauen sich das neue Zeug an und finden es nicht gut genug.

Das No-Buy ist für mich ein logischer Schritt nach dem Konmari-Ausmisten, auch wenn ich selbst erst mit dem No-Buy angefangen und dann ausgemistet habe. Aber nach der Feststellung, wie viel Zeug wir eigentlich alle besitzen, und wie wenig glücklich es macht, kommt die Erkenntnis, dass das impulsive Mehr-Kaufen von mehr Zeug nicht dazu führen wird, dass wir glücklicher sind, unsere Ziele eher erreichen oder uns langfristig besser fühlen.

Wenn das Zeug, das ich früher gekauft habe, mich jetzt nicht glücklicher gemacht hat – wird dann das Zeug, das ich jetzt kaufe, mich in Zukunft glücklicher machen?

Ich arbeite hart daran, nicht ein einziges Stück Müll bei mir einziehen zu lassen. Durch mein No-Buy habe ich mir eine Art Entgiftung verschrieben, die mich aus meinen Konsumgewohnheiten reißen soll. Und was soll ich sagen, es wirkt!

Auf dem Foto sind zwei Rouges zu sehen und zwei Puder fürs Gesicht. Bei den beiden Pudern schimmert in der Mitte der Boden des Behälters durch.
Rouge und Puder zu Beginn meines „Project Pan“.

Mit Misstrauen betrachte ich die Menschen, die durch Fußgängerzogen schlendern, eigentlich nur spazieren gehen, aber nicht durch Wald oder Feld, sondern durch den Konsum streifen. Mit Ekel schaue ich auf unter furchtbaren Umständen produzierte Waren, die in Läden hängen, die mit „25 % unserer Mode ist nachhaltig produziert!“ werben, ohne ausführen zu müssen, was das eigentlich sein soll, dieses „nachhaltig“. Mit Widerwillen schaue ich auf meine viel zu große Makeupsammlung, die ich zwar schon etwas ausgedünnt habe, aber die noch mehr Zeit brauchen wird, bis sie auf ein sinnvolles Maß geschrumpft ist. Mit Verachtung höre ich immer noch zu viele Politiker*innen, die Konsum, Arbeit und Würde miteinander koppeln. Als gäbe es keine Alternative. Als würde alles besser werden, wenn wir uns nur ganz, ganz dolle anstrengen und schnell viel konsumieren! Kauft, Leute, kauft!

Am besten gute deutsche Autos. Mmmmh, lecker Autos!

Our culture of work strains to cover its flaws by claiming to be unavoidable and natural.

Post-work: the radical idea of a world without jobs

Zero Waste: Wenn schon Konsum, warum dann nicht anders?

Und überhaupt, wenn wir etwas kaufen, wie kaufen wir es dann? Wieso sind meine Gurken eigentlich verpackt? Das muss auch anders gehen! Zero Waste ist das neue Bio. Denn Verpackungsmüll, damit das unter menschenunwürdigen Bedingungen produzierte Gemüse von relativ weit weg möglichst keimfrei aussehend für möglichst lange Zeit in unseren riesigen Einkaufstempeln dümpeln kann, ist einfach mal kacke. Das kann man so hinnehmen – oder auch nicht! Wo einige schon darauf achten, fair produzierte Lebensmittel zu kaufen, steht bei Zero Waste die Müllvermeidung im Vordergrund. Ich bin jetzt nicht sicher, ob sich die Zero-Waste-Herangehensweise nur auf die Verpackung beim Kauf beschränkt, ich nehme es aber an, da es ziemlich schwierig ist, die komplette Produktionskette seriös zu durchleuchten.

Aber wäre ein Siegel dafür, Waren plastikfrei herzustellen, nicht eine erstrebenswerte Sache?

Fridays for Future, die Zukunft ist jetzt

Die Zeit wird knapp. Viel zu lange haben wir auf zu großem Fuß gelebt. Wir haben uns die Gegenwart von der Zukunft geliehen, und jetzt holt uns die Zukunft ein. Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Es geht einfach nicht, Punkt. Nicht, wenn wir eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten haben wollen.

Das hat die Bewegung Fridays for Future erkannt. Sie haben so Recht. Nein, wir können in Zukunft nicht mehr fix nach Paris fliegen, dann zum Entspannen schön auf die Kanaren, und im Winter der Sonne hinterher nach Thailand. Wir können nicht, wenn wir die Welt nicht in katastrophalem Zustand hinterlassen wollen. Und zumindest ich bin nicht bereit, das billigend in Kauf zu nehmen.

Und vollkommen zu Recht fordert die Bewegung die Politik auf, gegenzusteuern. Denn auch wenn wir mit kleinen Handlungen manchmal Kleinigkeiten bewegen können, lastet dadurch doch der Druck auf dem Individuum. Es gibt Menschen, die brauchen Strohhalme! Es ist nicht ihre Schuld, dass die billigsten Strohhalme aus Plastik sind und die von Restaurantbesitzenden gekauft werden. Niemand verdient es, dafür beschämt zu werden, eine einfache Lösung zu wählen. Ist ja schön, wenn ich mir als Mensch mit Zeit und Geld aussuchen kann, keinen Müll zu machen – aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein in Anbetracht der Möglichkeiten, die es zur Müllvermeidung gäbe!

Angebot und Nachfrage

Die Zeit ist reif für tiefgreifende Änderungen. Für mutige Schritte. Manche probiere sie im Kleinen aus, testen, ob das klappt mit diesem Leben ohne Müll, mit weniger Konsum. Die Erkenntnis wächst, dass es geht. Und dass es gehen muss.