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Eltern, Kinder, Corona: Das Leben, das ich nie wollte

Kinderhände halten ein selbstgemaltes Bild hoch.

Ich lebe ein Leben, das ich nie wollte. Seit über 10 Wochen jetzt betreuen mein Partner und ich unser Kind zu Hause. Zusätzlich zu unserer Arbeit, klar. „Nebenher“. Unser Kind ist viereinhalb Jahre alt und sehr aufgeweckt, und es fordert viel Aufmerksamkeit. Seit ich vor etwa 6 Wochen einen Hilferuf absetzte, weil ich nicht mehr wusste, wie ich mit der Überforderung anders klar kommen sollte, werden wir 3-4 Mal in der Woche unterstützt von Freund*innen, die dann das Kind für 2 Stunden übernehmen. Die Freund*innen leben mit uns im gleichen Haus und nehmen wie wir die Kontaktbeschränkungen äußerst ernst.

Kinder, Küche, Kompromisse

Als ich mich 2014 dafür entschieden habe, dass ich ein Kind möchte, war das eine knappe Entscheidung. Man könnte fast sagen, dass ich ein Kind „in Kauf genommen habe“. Ich war 34 und wusste, dass unsere Gesellschaft Kinder nicht besonders wertschätzt. Kinder werden als Makel im Lebenslauf wahrgenommen, als Zeit- und Geldfresser, als Wesen, die dir Jugend, Sexdrive und Partynächte rauben und sie ersetzen durch Kackwindeln, Kindergeburtstage und einen gebeugten Rücken vom vielen Katzbuckeln in alle Richtungen: Damit du überhaupt die dir gesetzlich zustehende Kinderbetreuung bekommst, damit dir das Elterngeld auch wahrhaftig ausgezahlt wird, damit du in einem Restaurant sein darfst mit deinem Kind, damit du in deinem Job weiterarbeiten darfst, man stelle sich das mal vor. Ich hatte außerdem Angst vor den physischen Veränderungen der Schwangerschaft, scheute die Verantwortung, die Eltern nie wieder ablegen können, macht euch da nichts vor. Und vor dem systemischen Sexismus, dem Mütter anders und mehr ausgesetzt sind als kinderlose Frauen. Und Mütter natürlich gänzlich anders als Väter. Ich nahm das damals in Kauf, weil wir uns ein Kind wünschten. Und wir lieben es sehr. Es ist das beste Kind der Welt.

Ein Kind liegt auf dem Bauch und malt.

Aber es war eine durchaus knappe Entscheidung. Und hätte ich gewusst, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, wo wir uns auf keine Unterstützung mehr verlassen können, ich hätte mich dagegen entschieden.

Corona bringt es an den Tag

Und dann kam Corona, und es ist soweit: Es gibt keine Unterstützung mehr. Wir Eltern vegetieren seit bald einem Vierteljahr (gebt euch das mal, bitte!) in unseren Familienhöhlen und sollen alles gleichzeitig machen, wenn wir auch künftig noch existieren wollen. Wir sollen arbeiten und die Kinder betreuen, dabei hübsch still sein, wir wollen ja hier nicht die Revolution proben, und wer sich beschwert darf mit Whataboutismen rechnen wie „Was ist denn mit den Alleinerziehenden, den Alten, der Autoindustrie!?“ Und weil wir ja wirklich wissen, dass es gerade anderen Menschen auch schlecht geht und einigen natürlich auch schlechter als uns, halten wir mehrheitlich die Klappe. Ich habe von Müttern (sic) gehört, die zwischen 5 und 7 Uhr am Morgen arbeiten, um danach die Kinder betreuen zu können. Ich habe von inoffiziellen Spielabsprachen erfahren. Ich habe von Nervenzusammenbrüchen gehört. Und von Suizidgedanken.

Unvorstellbar? Dann stell dir vielleicht mal vor, alle 15 Minuten klingelt ein Wecker. Wenn er klingelt, musst du eine zufällige Aufgabe machen, zum Beispiel ein Brot buttern, ein albernes Spiel spielen, kneten oder ein Buch vorlesen, mit einer 50%igen Chance, dass du die Geschichte so richtig scheiße findest. Und das musst du mit einem Lächeln tun und voller Liebe. Von 7 Uhr am Morgen bis 8 Uhr am Abend. Du darfst für eine Weile den Wecker ignorieren, aber dann musst du die ganze Zeit über darüber nachdenken, was für ein schlechter Mensch du bist und wie du die Leben aller Menschen langsam zerstörst, die du liebst.

Und das machst du jetzt bitte neben dem Job, dem Haushalt und dem ohnehin ständig drückenden Stress durch eine weltweite Pandemie – und du machst das bitte 10 Wochen lang, ohne, dass Besserung in Sicht wäre. Herzlich Willkommen in meiner Welt.

Vor inzwischen einem Monat forderten Sozialverbände und Kinderärzt*innen die Politik zum Handeln auf. Und seit Monaten wird versprochen, dass sich um die Kinder und auch um die Eltern gekümmert wird. Bisher ist dabei herausgekommen: Nichts. Notbetreuung. Lippenbekenntnisse. Von 300 € „Sonderzahlung“ wurde gesprochen. Was soll ich mit 300 €? Dafür kann ich mir keine neuen Nerven kaufen. Genausowenig übrigens, wie man sich von 150 € einen Laptop kaufen kann.

Zwei Zettel, auf denen mit krakeliger Kinderschrift "Papa" und "Mama" steht.

Ja sorry, dass ich kein Auto geboren habe. Da würde ich jetzt Finanzspritzen, Konjunkturankurblungsversuche und ganz viel Beachtung von Politiker*innen hinterhergeschmissen bekommen. Schuldigung auch, dass Kinder keine Airline sind, die die Umwelt seit Jahrzehnten durch fehlende Ausgleichszahlungen bescheißt und jetzt gerettet werden muss mit Milliarden – ganz legal natürlich, Umwelt ist ja als Ressource quasi nicht bezifferbar und darum wird da auch nicht bezahlt für. Duh. Kinder sind ja nur die langweiligen Steuerzahlenden von morgen, blabla, das Argument haben die Kinderlosen schon so oft gehört, es wird einfach nicht geiler, wenn ich es wiederhole. Es verliert aber auch nicht an Relevanz.

Aber ich schweife ab, wir wollen ja konstruktiv bleiben. Vorbildliche Eltern sozusagen.

Der neue Riss durch die Gesellschaft

Also stelle ich nüchtern fest: Ein Riss, der schon seit langem durch die Gesellschaft geht, und der von vielen der Einfachheit halber ignoriert wurde, ist jetzt unübersehbar geworden: zwischen Eltern und Kinderlosen.

Wenn Wigald Boning versteht, was jetzt getan werden muss, aber die Kanzlerin nicht. Wenn der Profifußball für einige wichtiger ist als eine zumindest zeitweise geregelte Betreuung für kleine Kinder. Wenn der Gender-Rollback läuft und läuft, nur nicht für alle gleichermaßen. Wenn sich manche Gedanken machen können, welches ausgefallene Brotrezept sie als nächstes ausprobieren oder welchen tollen Corona-Skill sie als nächstes lernen oder welches Workout sie am effektivsten zu Hause schaffen können – und andere unter der Dusche zusammenbrechen, weil sie ihr Kind lieben, aber einfach nicht mehr rund um die Uhr ertragen, weil sie gute Eltern sein wollen, aber nicht mehr wissen, wie das gehen soll, weil den letzten Rest an Geduld verbraucht haben und sie trotzdem ruhig und besonnen handeln müssen, wenn ihr Kind durch eine Trotzphase geht, die nun einmal dazugehören zum Kindsein.

Wir Eltern können nur so gut sein, wie wir Unterstützung haben: Bedingungslose Akzeptanz, radikale Hilfe, kreative Angebote. Von alledem ist gesellschaftlich nichts zu sehen. Das ist eine Schande und eine Tragödie. Und es darf nicht so bleiben. Denn die Reserven sind bei zu vielen schon lange aufgezehrt.

Darum appelliere ich an die Politik, aber auch jede einzelne Person: Tut endlich etwas! Schaut nicht weg, solidarisiert euch. Unterstützt die, die schon zu lange keine Kraft mehr haben, aufzubegehren. Seid kreativ, seid hilfsbereit, zeigt Akzeptanz. Denn wir sind am Ende unserer Kräfte angekommen.


Nachtrag, 28.05.2020:

Ich habe jetzt einige Male gelesen, ich solle mich nicht anstellen. Manche schreiben das als Helden-Elternteil, das sich ganz aufgibt für das Kind und sich in die Situation so positiv einfügt wie möglich. Wenn das deine Vorstellung eines erfüllten Lebens ist, dann ist das ja schön, aber diesen Lebensentwurf allen Eltern aufoktroyieren? Also bitte. Da war unsere Großelterngeneration ja weiter.

Andere möchten mir das Recht absprechen, mich für ein Kind entschieden zu haben. Ach, Jon Snow, you know nothing. Nichts über mich, über meine Situation, meine Partnerschaft. Es sei gesagt: Ich habe mir diese lebensverändernde Entscheidung sicher nicht leicht gemacht, was unter anderem Sichtbar ist anhand des Fakts, dass ich über 30 Jahre gewartet habe. Kommentare wie „dann hättest du halt kein Kind kriegen sollen“ disqualifizieren sich meiner Ansicht nach ohnehin selbst, denn was bitte ist die Alternative? Dass staatliche Stellen ab jetzt entscheiden, wer Kinder kriegen darf und wer nicht wertvoll, stabil oder wohlhabend genug dafür ist? Oder doch lieber dahergelaufene Kommentator*innen in Blogs? Derartige Argumentationsmuster lassen keine sinnvolle Diskussion zu und dienen nur der Herabwürdigung meiner Person und anderer Eltern.

Diskursiv vorgebildete Personen würden sich auch nicht in Täter-Opfer-Umkehr verheddern und mir die Schuld dafür geben, dass es mir (wie vielen anderen) mit der Situation schlecht geht. Positives Denken bringt nur so lange weiter, so lange es sich nicht vollständig von der Realität entkoppelt.

"this is fine" meme

Ich werde künftig keine Kommentare mit diesen Inhalten mehr freischalten. Wenn du also gerade ansetzen willst und etwas in dieser Art in deine Tastatur klopfen willst: Du kannst dir die Mühe sparen. 🙂

2020: Das Jahr, in dem ich ein Budget aufnahm

Ich habe beschlossen, 2020 ein Budget zu führen. Das wird für mich eine Herausforderung. Ein Jahr (fast) nichts zu kaufen war schon schwierig, ein Budget einzuhalten wird aber voraussichtlich noch schwieriger. Während es mir relativ leicht fällt, meinem Konsumwunsch freien Lauf zu lassen oder mich komplett zu enthalten, ist es für mich ungleich schwerer, ein gutes Maß zu finden und zu halten.

Ein Maß zu halten habe ich bisher einfach nicht lernen müssen. In der Zeit, in der ich kein Geld auszugeben hatte, konnte ich es nicht lernen, weil mir das Geld fehlte. Und danach kenne ich nur das Gefühl, mir jeden Wunsch unmittelbar zu erfüllen und mir so vorzuspielen, ich müsste mir um Geld niemals Sorgen machen.

Existenzieller Frugalismus, Boomer!

Das stimmte natürlich nie. Ich wundere mich kein Stück, dass meine Generation nicht nur aus Umweltgründen spart. Frugalismus heißt der aktuelle Lifestyle, den die Boomer nie nötig hatten. Und wenn ich das Wort „Rente“ höre, bekomme ich aus mehreren Gründen Schnappatmung. Darum ist auch mein Konsumverzicht irgendwo zwischen Umweltschutz, Kapitalismusverweigerung, Sinnsuche und Lebensnotwendigkeit angesiedelt.

Den sorgsamen Umgang mit Geld wirklich zu lernen ist eines meiner Ziele für dieses Jahr. Ich will keinen sorglosen Konsum mehr, der mehr kaputtmacht, als ich mir ausmalen kann. Ich will nicht von personalisierter Werbung verfolgt werden, bis ich zu einem Shoppingzombie werde, der brav kauft, was ihm vorgesetzt wird. Und ich will mich auch nicht daran beteiligen, unseren Planeten buchstäblich kaputtzukonsumieren.

80 € für nachhaltigen Konsum

Seit ich selbst Geld verdiene, musste ich nicht mehr mit einem Budget auskommen. Ich war daher ein wenig ratlos, wie hoch ich es ansetzen sollte. Früher bekam ich 60 Mark im Monat Taschengeld, und dafür musste ich mir alles kaufen: Schulsachen, Kleidung, Schuhe. (Als Jugendliche waren Wohnung und Essen inklusive.) Mit diesen umgerechnet knapp 30 € im Monat würde ich vermutlich nicht mehr auskommen, auch, weil diese 30 € heute inflationsbedingt nur noch eine Kaufkraft von etwa 23 € haben.

Ich überlegte also hin und her. 50 € erscheinen mir zu knapp, wenn ich davon alles kaufen muss, was ich im kommenden Jahr so kaufen muss, von Shampoo über Concealer, von neuen Schuhen bis hin zu Jeans, von einer neuen Winterjacke, die voraussichtlich ansteht, bis zu Büchern, Spielen und anderem Firlefanz. Es ist mir wichtig, dass ich mein Budget auch einhalte. Ich will mich nicht mit zu ehrgeizig gesteckten Regeln scheitern lassen. 100 € scheinen mir andererseits zu viel, das wären immerhin 1200 € auf das ganze Jahr gesehen. Und ich wollte im Jahr unter 1000 € bleiben.

Ein Budget braucht Regeln

Mein Budget wird bei 80 € im Monat liegen, was 960 € auf das Jahr gesehen macht. Die kann ich für Kleidung, Pflegedinge, Schminkzeug, Schuhe, Bücher, Elektroniksachen, Spiele, Deko, Geschirr oder Schmuck ausgeben. Ich setze mir selbst die Regel, dass ich mein Monatsbudget nicht überziehen darf. Ich darf mir nichts von meinem „zukünftigen Ich“ ausleihen. Aber wenn ich das Budget in einem Monat nicht ausschöpfe, wandert der Rest in den nächsten Monat.

Wenn ich diesen Betrag jetzt so vor mir sehe, ist das ganz schön viel Geld. Mal sehen, wie ich in einem Jahr darüber denke.

Konsumscham? Ja, bitte!

Mein aktuelles No-Buy-Jahr hat mir vor Augen gehalten, wie viel ich normalerweise unbedacht kaufe. Ja, ich schäme mich, dass ich ein No-Buy gebraucht habe, um das zu sehen.

H&M-Chef Persson wird heute im Spiegel Online zitiert mit:

Solche breiten öffentlichen Aktionen hätten lediglich „einen kleinen Einfluss auf die Umwelt, aber schreckliche gesellschaftliche Konsequenzen“

Diese Aussage ist interessant, weil sie damit anderen Aussagen widerspricht. Da wäre zum Einen der Fakt, dass die Wirtschaft es üblicherweise nur zu gern den Einzelnen überlässt, eine Sache nicht zu kaufen (und idealerweise dann eine andere doch zu kaufen). „Abstimmung an der Supermarktkasse“ wird das dann genannt, und es ist ein beliebtes Mittel, die Politik von eigentlich dringenden Regulierungen abzubringen. Und auf einmal soll das nicht mehr ok sein?

„Wenn ihr nicht weiter kauft, dann geht alles den Bach runter!“ scheint uns Persson zuzurufen. „Erst die Wirtschaft, dann eure Jobs, dann die Welt!“

Spannend. Sehr spannend. Hat da jemand Angst vor einem Umdenken? Ich gebe zu, auf eine so verzweifelt wirkende Aussage reagiere ich in gleichen Anteilen mit Hoffnung und Häme.

Interessant ist aber auch, das Zitat in einen anderen Kontext zu setzen. Wenn die Handlung von Einzelnen kein Gewicht hat, dann sollte der Einzelne doch eigentlich gar keine Rolle spielen. Wozu also Werbung schalten? Das sollte nach der Logik ebenfalls sinnlos sein.

Spiegel Online zufolge machen die CO2-Ausstöße der Modeindustrie weltweit insgesamt 8-10% aus. Fast-Fashion-Marken wie H&M dürften dabei eine gewichtige Rolle spielen. Kein Wunder, dass die durch das endlich stärker werdende Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Klimakatastrophe sowie Konsum und Verschwendung ihre Felle davonschwimmen sehen.

Aus meiner Sicht ist dieser verzweifelte Hilferuf eines reichen weißen Typen ein ganz gutes Zeichen. Insofern: Konsumstreik! Und: Boykottiert, was das Zeug hält!

Marie Kondo, No-Buy, Zero Waste, Fridays for Future – dies ist eine Revolution!

Whoa whoa whoa! Halt, Stopp! Das sind aber viele Buzzwords in einem Titel! Ist das hier einer von diesen Clickbait-Artikeln? Nein. Ich verdiene nämlich gar nichts, wenn meine Artikel geklickt werden. („Whaaaaaaat!1!“) Nicht alles hat mit Kapitalismus zu tun.

Also zumindest nicht dieser Text, nicht so.

Jetzt, wo wir das aus dem Weg haben: Diese „Buzzwords“ sind gerade erstarkende Bewegungen, von denen manche politischer daherkommen als andere. Aber sie alle haben gemeinsam, dass sie etwas in unserer Gesellschaft sichtbar machen, das wir bisher vielleicht nicht so klar sehen konnten.

Arbeiten - Kaufen - Sterben auf einem Aufkleber
Foto von Daniel Schweighöfer.

Außerdem bin ich heute über den Artikel gestolpert Zehn Zwänge, die uns der Kapitalismus einbrockt. Neugierig klickte ich – und war von dem klitzekleinen Bogen, den der Artikel spannt, komplett unterrascht. Uh, ja, wir arbeiten für Geld, das war nicht immer so. Big Deal. Durchgeplante Arbeit führt zu durchgeplanter Freizeit. Gähn. Schnell wieder zugemacht und statt dessen angefangen, selbst zu schreiben.

Dabei berührt Kapitalismus uns viel tiefer. Er bestimmt unser Denken und Fühlen. Er verändert unsere Wahrnehmung. Er degradiert Menschen zu Verbrauchern, deren Sinn es ist, Waren zu fertigen, Dienstleistungen zu erbringen, zu konsumieren und dann zu sterben.

Marie Kondo, Göttin der Selbst-Genügsamkeit

Enter Marie Kondo. Sie schreibt uns nicht vor, was wir besitzen müssen. Sie sagt nicht, ob 10 Jeans zu viele, zu wenige oder gerade richtig viele sind. Sie sagt nur: Nimm dir die Zeit, dein Zeug in Ruhe anzusehen. Nimm dir die radikale Freiheit, ohne besondere Gründe Dinge auszusortieren. Nimm dir den Mut, alles kritisch anzuschauen und zu sehen, was dich davon glücklich macht.

Ein großer Berg Kleidung, aufgetürmt auf einem Bett.
KonMari, Stadium 1: Ein Berg Kleidung auf einem Bett aufgetürmt.

Die Erfahrung, die viele machen, die mit Hilfe von Konmari ausmisten: Es sind viel weniger Sachen als gedacht, die „Joy sparken“, also Freude auslösen. Viele Sachen sind Ballast, viele machen traurig, nageln eine*n in der Vergangenheit fest. Ich habe beim Ausmisten sehr stark gespürt, mit wie vielen negativen Gefühlen mein Zeug aufgeladen war. Ich hielt an Zeug, nein, an Müll fest, weil … ich irgendwann einmal Geld dafür ausgegeben hatte. Weil ich dachte, dass das „zu schade“ zum Ausmisten ist. Weil ich es ja noch mal brauchen könnte.

Aus Marie Kondo folgt: Es sind nicht die Dinge, die wirklich glücklich machen können. Die Dinge sind ein Mittel zum Zweck. Manche gewinnen wir lieb, füllen sie mit Bedeutung und guten Erinnerungen. Die sparken dann auch Joy, und wir halten lange an ihnen fest. Aber nicht, weil diese Dinge das von sich aus mitgebracht hätten. Sondern weil wir etwas mit ihnen gemacht haben.

No-Buy, die Rebellion der (Nicht-)Käufer*innen

In der Make-up-Community geht ein Gespenst um. Es heißt „No-Buy“, und es macht aus braven Konsument*innen der neuesten Lidschattenpalette, des krassesten Lippenstifts und dieser goldenen Gesichtsmasken Rebell*innen. Sie shoppen nicht im Laden, sondern in ihrem Stash, sie *shock* benutzen ihr Schminkzeug, statt sich neues zu kaufen. Sie rotten sich zusammen und ermuntern sich zum Nichteinkaufen, sie schauen sich das neue Zeug an und finden es nicht gut genug.

Das No-Buy ist für mich ein logischer Schritt nach dem Konmari-Ausmisten, auch wenn ich selbst erst mit dem No-Buy angefangen und dann ausgemistet habe. Aber nach der Feststellung, wie viel Zeug wir eigentlich alle besitzen, und wie wenig glücklich es macht, kommt die Erkenntnis, dass das impulsive Mehr-Kaufen von mehr Zeug nicht dazu führen wird, dass wir glücklicher sind, unsere Ziele eher erreichen oder uns langfristig besser fühlen.

Wenn das Zeug, das ich früher gekauft habe, mich jetzt nicht glücklicher gemacht hat – wird dann das Zeug, das ich jetzt kaufe, mich in Zukunft glücklicher machen?

Ich arbeite hart daran, nicht ein einziges Stück Müll bei mir einziehen zu lassen. Durch mein No-Buy habe ich mir eine Art Entgiftung verschrieben, die mich aus meinen Konsumgewohnheiten reißen soll. Und was soll ich sagen, es wirkt!

Auf dem Foto sind zwei Rouges zu sehen und zwei Puder fürs Gesicht. Bei den beiden Pudern schimmert in der Mitte der Boden des Behälters durch.
Rouge und Puder zu Beginn meines „Project Pan“.

Mit Misstrauen betrachte ich die Menschen, die durch Fußgängerzogen schlendern, eigentlich nur spazieren gehen, aber nicht durch Wald oder Feld, sondern durch den Konsum streifen. Mit Ekel schaue ich auf unter furchtbaren Umständen produzierte Waren, die in Läden hängen, die mit „25 % unserer Mode ist nachhaltig produziert!“ werben, ohne ausführen zu müssen, was das eigentlich sein soll, dieses „nachhaltig“. Mit Widerwillen schaue ich auf meine viel zu große Makeupsammlung, die ich zwar schon etwas ausgedünnt habe, aber die noch mehr Zeit brauchen wird, bis sie auf ein sinnvolles Maß geschrumpft ist. Mit Verachtung höre ich immer noch zu viele Politiker*innen, die Konsum, Arbeit und Würde miteinander koppeln. Als gäbe es keine Alternative. Als würde alles besser werden, wenn wir uns nur ganz, ganz dolle anstrengen und schnell viel konsumieren! Kauft, Leute, kauft!

Am besten gute deutsche Autos. Mmmmh, lecker Autos!

Our culture of work strains to cover its flaws by claiming to be unavoidable and natural.

Post-work: the radical idea of a world without jobs

Zero Waste: Wenn schon Konsum, warum dann nicht anders?

Und überhaupt, wenn wir etwas kaufen, wie kaufen wir es dann? Wieso sind meine Gurken eigentlich verpackt? Das muss auch anders gehen! Zero Waste ist das neue Bio. Denn Verpackungsmüll, damit das unter menschenunwürdigen Bedingungen produzierte Gemüse von relativ weit weg möglichst keimfrei aussehend für möglichst lange Zeit in unseren riesigen Einkaufstempeln dümpeln kann, ist einfach mal kacke. Das kann man so hinnehmen – oder auch nicht! Wo einige schon darauf achten, fair produzierte Lebensmittel zu kaufen, steht bei Zero Waste die Müllvermeidung im Vordergrund. Ich bin jetzt nicht sicher, ob sich die Zero-Waste-Herangehensweise nur auf die Verpackung beim Kauf beschränkt, ich nehme es aber an, da es ziemlich schwierig ist, die komplette Produktionskette seriös zu durchleuchten.

Aber wäre ein Siegel dafür, Waren plastikfrei herzustellen, nicht eine erstrebenswerte Sache?

Fridays for Future, die Zukunft ist jetzt

Die Zeit wird knapp. Viel zu lange haben wir auf zu großem Fuß gelebt. Wir haben uns die Gegenwart von der Zukunft geliehen, und jetzt holt uns die Zukunft ein. Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Es geht einfach nicht, Punkt. Nicht, wenn wir eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten haben wollen.

Das hat die Bewegung Fridays for Future erkannt. Sie haben so Recht. Nein, wir können in Zukunft nicht mehr fix nach Paris fliegen, dann zum Entspannen schön auf die Kanaren, und im Winter der Sonne hinterher nach Thailand. Wir können nicht, wenn wir die Welt nicht in katastrophalem Zustand hinterlassen wollen. Und zumindest ich bin nicht bereit, das billigend in Kauf zu nehmen.

Und vollkommen zu Recht fordert die Bewegung die Politik auf, gegenzusteuern. Denn auch wenn wir mit kleinen Handlungen manchmal Kleinigkeiten bewegen können, lastet dadurch doch der Druck auf dem Individuum. Es gibt Menschen, die brauchen Strohhalme! Es ist nicht ihre Schuld, dass die billigsten Strohhalme aus Plastik sind und die von Restaurantbesitzenden gekauft werden. Niemand verdient es, dafür beschämt zu werden, eine einfache Lösung zu wählen. Ist ja schön, wenn ich mir als Mensch mit Zeit und Geld aussuchen kann, keinen Müll zu machen – aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein in Anbetracht der Möglichkeiten, die es zur Müllvermeidung gäbe!

Angebot und Nachfrage

Die Zeit ist reif für tiefgreifende Änderungen. Für mutige Schritte. Manche probiere sie im Kleinen aus, testen, ob das klappt mit diesem Leben ohne Müll, mit weniger Konsum. Die Erkenntnis wächst, dass es geht. Und dass es gehen muss.

Etwas Neues: Was ich eigentlich suche, und was ich mir statt dessen kaufe

Mein No-Buy läuft jetzt etwas über eine Woche. Und ich erwische mich immer noch dabei, dass ich die Webseiten besuche, auf denen ich früher gerne eingekauft habe, um zu sehen, ob es etwas Neues gibt. Dass ich durch Läden gehe und gucke, was es Neues gibt. Was ich noch nicht ausprobiert habe. Ich will trotz meines No-Buy-Jahres auf dem Laufenden bleiben.

Was genau heißt das eigentlich? Was heißt das, bin ich etwa besonders anfällig bin für dieses Neue, nach dem ich immer suche? Was davon ist eigentlich Ausdruck meiner Persönlichkeit, und was davon habe ich durch geschickte Verstärkung gelernt?

Und wer oder was hat mein (Kauf-)Verhalten verstärkt?

Was ist das „Neue“, dem ich hinterherjage?

Ich bin eine derjenigen, bei denen der Offenheit für Erfahrungen wegen des Deckeneffekts nicht mehr valide gemessen werden kann, sprich: Ich bin extrem neugierig, wissbegierig, Neuem gegenüber äußerst positiv eingestellt, suche stets Abwechslung und fokussiere stark auf neuen Input. Das ist nicht besser oder schlechter als das nicht so zu empfinden, das bin einfach ich.

Diese Offenheit für Erfahrungen macht mich aber, das verstehe ich inzwischen, zu einem gefundenen Fressen für die Stimmen, die mir raten, diesen Impulsen ständig nachzugeben. Also eigentlich alle Stimmen, die irgendwas mit Werbung zu tun haben. Neuer Lippenstift? Pssst! Gleich ausprobieren! Neuer Modetrend? Hui, wenigstens mal im Laden gucken, oder doch gleich kaufen? Was neues abgefahrenes zu Essen? Muss ich sofort probieren, wo kriege ich das jetzt schnell her?

Dabei vermischen sich bei mir zwei Dinge: Meine Freude daran, Neues zu erleben auf der einen Seite. Dieses Neue kann nämlich eigentlich alles sein: Neue Sinneseindrücke. Neue Menschen. Neue Erfahrungen. Neues Wissen. Ja, und auch neue Dinge. Und die wilden Versprechungen der Werbung, dass ein einfach verfügbares, käufliches neues Produkt der Schlüssel zu einem neuen Erlebnis ist auf der anderen Seite: Es ist besser! Es ist schöner! Es ist so unvorstellbar anders und einzigartig! Nie dagewesen! Neuneuneu! Der Lippenstift hat eine Farbe, die du noch nie gesehen hast! Der Modetrend ist nie zuvor dagewesen! Und das neue Essen (ist zwar einfach von anderen Kulturen geklaut und künstilich westlich aufgehyped, aber) bringt dir ungeahnten Genuss.

Der auf diese Weise aufgeladene und aufgebauschte Wunsch nach kaufbaren neuen Erfahrungen führte bei mir dazu, dass ich mich im Konsum verlor. Dass ich mehr kaufte, um mehr zu erleben. Die Folgen sehe ich jeden Tag: Ich habe im Moment noch fünf angebrochene Deos herumstehen. Vier Shampoos habe ich in der Wohnung zusammengesucht (dabei habe ich schon eines verbraucht). Ich fange gar nicht mit meinen Haarstylingprodukten an. Oder mit meinen Lippenstiften.

Konsumieren um zu existieren

Ist es mein Wunsch, mitreden zu können? Die Freude daran, Tipps geben zu können? Es ist sicherlich einfacher, etwas zu kaufen und so neue Erfahrungen zu erwerben, als sich die Mühe zu machen, etwas über neue Ideen und Konzepte zu lernen. Als ein neues Hobby zu lernen, und ich meine jetzt nicht einfach eine Materialschlacht zu vollführen, sondern eine Fähigkeit zu lernen. Vielleicht eine Sprache, ganz ohne viel Kaufzeug. Das ist viel, viel schwieriger.

Und das Versprechen nach Neuem wird bei diesen nicht-materiellen Erwerbungen auch nicht ständig durch Werbung verstärkt. Kein Plakat plärrt mich an: „Lern endlich was über die Politik der 1920er Jahre!“ – zumindest nicht, ohne mir gleich ein alle-Probleme-lösendes Kaufprodukt direkt unter die Nase zu halten. Kein Radiospot sagt: „Siebenbürger Küche wie deine Oma sie gekocht hat, lecker-lecker-lecker-lecker!“, und kein A-, B- oder C-Promi umschmeichelt mich mit „Bring dich auf den aktuellen Stand in deinen Fachgebieten!“ Die wollen mir alle nur was gegen meine Falten verkaufen.

Ich merke, dass Konsum zu einer Ausdrucksform geworden ist. Ich kaufe, also bin ich. Und ich bin, was ich kaufe. Nein: Ich kaufe, was ich sein will. Ich will schön sein, dann kauf ich mir Lippenstift. Ich will modern sein, dann kaufe ich mir irgendsoein Modeteil, das ich genau eine halbe Saison anziehen kann. Ich will erfolgreich sein, dann kaufe ich mir, was andere erfolgreiche Menschen bewerben! Es ist so einfach. Es ist zu einfach.

Schnell, kauf was, sonst verlierst du den Anschluss!

Und da ist noch dieser andere Gedanke: Ich will den Anschluss nicht verlieren. Ich frage mich: Den Anschluss woran? An eine Gesellschaft, die munter auf die Klimakatastrophe hinkonsumiert? An Mode, die sich schneller ändert, damit mehr gekauft wird, damit mehr weggeschmissen wird? Werden hier Werte vertreten, denen ich mich anschließen möchte?

Verliere ich den Anschluss daran, auf Parties über oberflächliche Themen reden zu können? Wen will ich hier eigentlich beeindrucken? Sollte ich dieses Konformitätsbedürfnis nicht mit dem Verlassen der Schule hinter mir gelassen haben?

Es scheint an der Zeit, kritisch darauf zu schauen, an wen und was ich mich da eigentlich anschließe. Welchen Bedürfnissen ich unhinterfragt nachgebe. Durch meinen Konsum. Durch meine Käufe. Durch meine Entscheidungen.